Antrag: Hochrisikogruppen wirksam vor dem Coronavirus schützen - wohnungslose Menschen in Niedersachsen besser unterstützen und das Prinzip Housing First landesweit umsetzen
Der Landtag wolle beschließen:
Entschließung
Wohnungslose Menschen sind eine gesundheitlich hochgradig belastete Gruppe und zählen somit zur Hochrisikogruppe für COVID-19-Erkrankungen. Anders als andere Risikogruppen profitieren sie von geltenden Schutzmaßnahmen jedoch kaum. Im Gegenteil: Sie sind dem SARS-CoV-2-Virus weitgehend schutzlos ausgeliefert.
Erschwerend kommt hinzu, dass Angebote der Wohnungslosenhilfe zum Teil nur eingeschränkt zur Verfügung stehen und viele Tätigkeiten, mit denen wohnungslose Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten, wie z. B. Almosen sammeln, Zeitungen verkaufen oder Hilfsdienste erledigen, deutlich schwerer zu organisieren sind. Auch informelle Hilfen und private Netzwerke sind deutlich eingeschränkt.
Zu Beginn der Corona-Pandemie haben einige Kommunen wohnungslose Menschen zeitweise in Hotels, Jugendherbergen oder anderen Gebäuden untergebracht, die während des ersten Lockdowns nicht regulär genutzt werden konnten. Was als Notlösung gedacht war, war für viele wohnungslose Menschen der Beginn einer ausgesprochen positiven Entwicklung. In Hannover wurden beispielsweise etwa 100 wohnungslose Menschen - unter finanzieller Beteiligung des Landes - in einer Jugendherberge und später in einem Hotel untergebracht. Ein Großteil von ihnen konnte innerhalb weniger Monate in weiterführende Hilfen und zum Teil sogar in Arbeitsverhältnisse vermittelt werden.
Die wissenschaftlich längst belegte Wirksamkeit des Prinzips Housing First hat sich hier auch in der Praxis bewährt.
Auf Grundlage der Erfahrungen aus der Unterbringung in Jugendherberge und Hotel haben Stadt und Region Hannover im Dezember das Orientierungsangebot „Plan B - OK“ gestartet, und an dem das Land als überörtlicher Träger der Sozialhilfe im Rahmen der Leistungen nach § 67 SGB XII (Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) beteiligt ist.
Angesichts durchweg positiver Ergebnisse von Housing-First-Angeboten in Niedersachsen und anderen Bundesländern, der andauernden Corona-Pandemie und des bevorstehenden Winters ist es geboten, wohnungslose Menschen in Niedersachsen kurzfristig besser zu unterstützen und zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten mit zu schaffen.
Vor diesem Hintergrund fordert der Landtag die Landesregierung auf,
1. die Kommunen in Niedersachsen finanziell, fachlich und organisatorisch dabei zu unterstützen,
a) weitere Projekte zu entwickeln, die nach dem Prinzip Housing First arbeiten und Menschen eine dauerhafte Perspektive in einer eigenen Wohnung ermöglichen,
b) dafür auch kurzfristig zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten zu akquirieren, z. B. in leerstehenden Liegenschaften des Landes und Gebäuden, die pandemiebedingt derzeit nicht regulär genutzt werden können,
c) parallel die Standards in den kommunalen Unterkünften für wohnungslose Menschen zu verbessern und die Einhaltung von Abstands- und Hygienevorgaben zu ermöglichen,
d) dabei insbesondere die Bedarfe von Frauen und jungen Menschen ohne Wohnung zu berücksichtigen,
2. die medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen in Niedersachsen schnellstmöglich zu verbessern, indem
a) Straßenambulanzen und vergleichbare Angebote so ausgestattet werden, dass sie eine bedarfsgerechte Versorgung anbieten können,
b) Clearingstellen eingerichtet werden, die bestehende Ansprüche in der Gesetzlichen Krankenversicherung klären,
c) wohnungslosen Menschen im Rahmen der STIKO-Empfehlungen vorrangig und niedrigschwellig Zugang zu relevanten Schutzimpfungen ermöglicht wird (insbesondere Influenza und COVID-19, sobald Letztere zur Verfügung steht),
d) wohnungslose Menschen kostenfrei mit FFP2-Masken ausgestattet werden,
3. die Beratungs- und Unterstützungsangebote von Kommunen und Trägerorganisationen bedarfsgerecht zu unterstützen.
4. kleine und bezahlbare Wohnungen in Niedersachsen zu schaffen, insbesondere auch kurzfristig durch den Ankauf von Belegungsrechten.
Begründung
Wohnungslose Menschen brauchen vor allem Eines: eine Wohnung. Erst die gesicherte Privatheit einer eigenen Wohnung ermöglicht es Menschen, zur Ruhe zu kommen, sich zu stabilisieren und sich für weitere Hilfen und neue Perspektiven zu öffnen. Die Unterbringung in der Jugendherberge in Hannover zu Beginn der Corona-Pandemie hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sich auf diese Weise auch langjährige „Straßenkarrieren“ durchbrechen und komplexe Problemlage schrittweise beheben lassen.
Das Prinzip Housing First ist in der Wohnungslosenhilfe weit verbreitet, scheitert jedoch bisher immer an einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Das Engagement von Kommunen wie Hannover zu Beginn der Corona-Pandemie hat gezeigt, dass auch eine zunächst befristete Unterbringung ausreichen kann, um Perspektiven abseits der Straße zu entwickeln und anzubahnen. Dieses Modell hat somit Vorbildcharakter auch für andere Kommunen in Niedersachsen und ist deshalb entsprechend zu fördern.
Eine stärkere Ausrichtung der Wohnungslosenhilfe auf das Prinzip Housing First entbindet jedoch nicht von der Verantwortung, parallel die Standards in den kommunalen Unterkünften so zu verbessern, dass eine menschenwürdige und den gängigen Hygienevorschriften Rechnung tragende Unterbringung möglich ist. Kommunale Unterkünfte müssen für wohnungslose Menschen Schutzraum sein vor Witterung, Gewalt - aber auch vor Krankheit. Die zuständigen, von der Corona-Pandemie aber stark beanspruchten Kommunen sind hierbei vom Land entsprechend zu unterstützen.
Die medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen war schon vor der Corona-Pandemie prekär. Das Risiko, an COVID-19 zu erkranken und einen schweren bis tödlichen Verlauf zu erleiden, ist für wohnungslose Menschen deutlich höher - auch weil grundlegende Hygienemaßnahmen (z. B. regelmäßiges Händewaschen) nicht eingehalten werden können und Schutzmasken, die für uns alle mittlerweile zum Alltag gehören, fehlen. Die häufig spendenfinanziert arbeitenden Straßenambulanzen, die zumindest eine notdürftige Versorgung anbieten, sind daher stärker zu unterstützen. Auch die Gesetzliche Krankenversicherung ist hierbei jedoch in die Pflicht zu nehmen. Mit Clearingstellen können bestehende Versicherungsansprüche, von denen wohnungslose Menschen häufig selbst gar nichts wissen, geklärt und in Anspruch genommen werden. Im Rahmen der Niedersächsischen Impfstrategie gegen das Coronavirus sind auch wohnungslose Menschen als Hochrisikogruppe zu berücksichtigen und vorrangig zu impfen, sobald ein Impfstoff zur Verfügung steht. Dafür sind auch Zugänge abseits der geplanten Impfzentren und über die mobilen Teams zu wählen.
Die Anstrengungen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus sind darüber hinaus zu verstärken. Insbesondere kleine bezahlbare Wohnungen werden für Menschen gebraucht, die einen Weg aus der Wohnungslosigkeit herausfinden. Kurzfristig kann hier auch der Ankauf von Belegungsrechten Abhilfe schaffen. Dazu sind ausreichend attraktive Konditionen im Rahmen der Wohnraumförderung zu schaffen.